Die Kultur des Grimassenschneidens

In Westeuropa wird erwartet, dass man oft lächelt. Ob das gut oder schlecht ist, sei dahingestellt, aber diese Erwartung nimmt langsam ab, da Europa in eine Phase wirtschaftlicher Schwierigkeiten, Kriegsängste und steigenden Terrorismus eintaucht. Doch das zeigt auch, dass die Dinge momentan nicht so rosig sind.

In Osteuropa hingegen gilt man als naiv oder als Ausländer, wenn man lächelt, obwohl man nicht wirklich glücklich ist. Das hat weniger damit zu tun, wie gut oder schlecht das Leben ist, sondern vielmehr damit, nur dann zu lächeln, wenn es angebracht ist – was, ehrlich gesagt, eher selten der Fall ist. Betritt man in Wien ein Geschäft, wird man oft angelächelt, aber wenn man genauer hinschaut, ist es häufig nur ein höfliches Lächeln mit dem Mund, nicht mit den Augen. Es ist eher eine gesellschaftliche Pflicht als ein echter Ausdruck.

Als Westeuropäer, der immer zum Lächeln ermahnt wurde, war mir nicht bewusst, dass ich eigentlich eher die Zähne fletschte, als wirklich zu lächeln, denn oft war ich gar nicht wirklich fröhlich. In meiner Familie galt es als schlechte Manieren, nicht zu lächeln. Meine Großmutter zum Beispiel lächelte so oft, dass selbst meine Freunde es unheimlich fanden – nicht, weil es warmherzig war, sondern weil es gezwungen wirkte. Und wie meine ukrainische Freundin sagt: „Grimassen sind gruselig.“ Künstliche Emotionen wirken tatsächlich oft beunruhigend.

Nachdem ich 20 Jahre in Israel gelebt hatte, war ich einen direkteren Umgang mit Gefühlen gewohnt. Wenn dort jemand dich nicht mag, merkst du es sofort, und umgekehrt weiß auch der andere sofort, wenn du ihn nicht magst. Als ich in der Ukraine war, verzog ich manchmal unbewusst das Gesicht, und meine Freundin fragte mich: „Bist du gerade glücklich?“ Wenn ich mit „Nein“ antwortete, meinte sie nur: „Warum machst du dann eine Grimasse?“ Diese Vorstellung, nur dann zu lächeln, wenn man sich wirklich danach fühlt, war für mich revolutionär. Und genau das liebte ich an der Ukraine: Du konntest ein Geschäft betreten, griesgrämig wie ein Maultier, und solange du respektvoll warst, war es allen egal, ob du lächelst oder nicht. Das war unglaublich befreiend.

Zurück in Wien wurde ich mir dieser „Grimassenkultur“ bewusster. Natürlich gibt es hier auch viel echte Herzlichkeit, aber erzähl bloß keinem Wiener, da sie den Ruf haben, griesgrämig zu sein – darauf sind sie irgendwie stolz! Doch ich selbst wollte nicht wieder zu dieser gezwungenen Freundlichkeit zurückkehren. Wenn ich einen guten Tag habe und mich tatsächlich warm und glücklich fühle – was ehrlich gesagt etwa so oft vorkommt wie ein blauer Mond – dann lächle ich. Aber ich werde nicht einfach aus Höflichkeit das Gesicht verziehen.

Dieser Ruf Wiens gibt mir die Freiheit, mich nicht verstellen zu müssen, keine Gefühle vortäuschen zu müssen bei jeder Begegnung. Das ist etwas Besonderes an Wien, da es als Hauptstadt eines westeuropäischen Landes an der Grenze zu Osteuropa liegt. Gehe ich jedoch weiter nach Westen, wie in die Schweiz, und lächle den Verkäufer nicht an, werden sie sich wohl fragen, was mit mir nicht stimmt. Doch Grimassen ziehen? Nein, das tue ich nicht mehr.

Nach all den Jahren habe ich eine andere Art der Höflichkeit schätzen gelernt – die, bei der ich mir kein Gesicht aufsetzen muss, das nicht zu meiner Stimmung passt. Es geht nicht darum, jemanden zu beleidigen oder die grundlegende Höflichkeit zu verweigern; es geht darum, ehrlich zu sein in einer Welt, die oft erwartet, dass wir uns verstellen. Heute lasse ich meine Gesichtsausdrücke lieber natürlich kommen, ob in Wien, der Ukraine oder anderswo. Wenn ich mich innerlich warm fühle, lächle ich. Wenn nicht, dann ist das auch okay. Und das ist vielleicht die wahre Freiheit – einfach so zu erscheinen, wie ich bin.


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